Schichtarbeit: Leben gegen die innere Uhr – wie kann man möglichen Gesundheitsschäden präventiv begegnen?

Rund 17 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland derzeit in Schichtsystemen, davon 2,5 Millionen in Nachtschicht. Welche Risiken bringt Schichtarbeit mit sich, und wie kann man möglichen Gesundheitsschäden präventiv begegnen? Darüber sprach die Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. mit Dr. med. Dirk Pallapies vom Institut für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung an der Ruhr-Universität Bochum.

Unsere Vorfahren hatten keine Wahl: Tagsüber waren sie aktiv, gingen zur Jagd, bebauten ihre Felder oder kümmerten sich um ihre Haustiere. Nachts schliefen sie, weil es keine Lichtquellen außer der Sonne gab. Menschen sind bis heute tagaktiv und biologisch auf den Wechsel von Tag und Nacht programmiert – durch den sogenannten circadianen Rhythmus (wörtlich: „ungefähr einen Tag lang”), der genetisch festgelegt ist. Als „innere Uhr” steuert er physiologische Funktionen wie Blutdruck oder Körpertemperatur sowie die Hochs und Tiefs der individuellen Leistungsfähigkeit. Chronobiologen, die sich damit beschäftigen, wie bestimmte physiologische Vorgänge im Körper zeitlich organisiert sind, haben herausgefunden, dass es außerdem verschiedene sogenannte Chronotypen gibt. So unterscheidet der Schlafforscher Jürgen Zulley bildhaft den früh aufstehenden Typ der „Lerche” (Frühtyp) und den eher nachtaktiven Typ der „Eule” (Spättyp)1. Neben dem Licht-Dunkel-Wechsel beeinflussen aber auch andere Zeitgeber, etwa der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme oder typische Zeiten, zu denen soziale Kontakte gepflegt werden, die innere Uhr des Menschen.

Generell lässt sich sagen, dass ein Schichtarbeiter gegen seine innere Uhr, gegen den normalen circadianen Rhythmus und gegen soziale Zeitgeber wie u. a. persönliche Kontakte oder kulturelle Aktivitäten lebt. Die Schlafphasen, die er nutzen kann, fallen meist in die Phase größter Aktivität des Organismus. Umgekehrt muss er arbeiten, wenn der Organismus nach einer Ruhephase verlangt. Heute ist bekannt, dass die innere Uhr sich auch nach langjähriger Schichtarbeit nur geringfügig an den nicht physiologischen Rhythmus der Schichtarbeit anpasst.

Krank durch Schichtarbeit?

Wer nur am Tag schlafen kann, schläft in der Regel kürzer, weniger tief und allgemein störanfälliger. Dadurch ist Tagschlaf weniger erholsam. Meist verschlechtert sich die Qualität des Schlafes bei ständiger Schichtarbeit immer weiter. Auch Leistungsbeeinträchtigungen sind bei Schichtarbeitern weit verbreitet. Außerdem steigt das Unfallrisiko, wenn Menschen während eines natürlichen Leistungstiefs im Tages- bzw. Nachtverlauf arbeiten müssen und deshalb übermüdet sind. Auf Dauer kann Schichtarbeit zu Konzentrationsschwäche, Nervosität und vorzeitiger Ermüdung führen. Auch Appetitlosigkeit und Magenbeschwerden werden oft beobachtet. Es gibt Hinweise, dass Schichtarbeit auch das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt. Weil Schichtarbeiter durch ihre abweichenden Arbeits- und Schlafphasen leicht sozial isoliert werden können, treten häufig auch psychische Probleme auf.

Dr. Dirk Pallapies vom Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) an der Ruhr-Universität Bochum (IPA) wünscht sich im Interview mit der BVPG vor allem detailliertere Studien zur Gesundheitsproblematik der Schichtarbeit: „Es ist bislang nicht geklärt, welcher Mechanismus die in bereits vorliegenden Studien entdeckten Effekte tatsächlich auslöst, sei es bei den Herz-Kreislauferkrankungen oder beim möglichen Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und Brustkrebs bei Frauen. Kommen die Effekte durch eine Vorauswahl der Probanden, indem etwa Personen mit bestimmten Lebensgewohnheiten (Ernährung, Rauchen etc.) dominant vertreten sind, zustande, oder ist tatsächlich die Schichtarbeit ursächlich? Bei Frauen im Schichtdienst etwa wurden meist Krankenschwestern und Stewardessen untersucht. Letztere sind z. B. zusätzlich der Strahlenbelastung auf Flügen unterworfen. Eine weitere Klärung wäre hier dringend notwendig.”

Können bessere Schichtpläne helfen?

Mit modernen Schichtarbeitssystemen versuchen Arbeitgeber, Gesundheitsrisiken für die Beschäftigten so gut wie möglich abzufedern. Bewährt haben sich kurz rotierende Arbeitszeitmodelle mit einer Schichtdauer von zwei bis drei Tagen. Geblockte Wochenendfreizeit und mindestens ein freier Abend pro Woche zwischen Montag und Freitag sind inzwischen üblich. Beim Schichtwechsel ist es sinnvoll, zur Verbesserung der Anpassung jeweils auf eine spätere Schicht zu wechseln. Nach jedem Nachtschichtzyklus sollte eine mindestens zweitägige Ruhephase eingelegt werden.

Immer häufiger werden bei der Schichtplanung auch individuelle Faktoren berücksichtigt; relevant mag auch sein, ob der Beschäftigte ein Früh- oder ein Spättyp ist. Eine gute arbeitsmedizinische Betreuung der Schichtarbeiter zahlt sich aus. „In Großunternehmen wie etwa BASF mit einer verbesserten Schichtplanung und speziellen Gesundheitsförderungsmaßnahmen wurden viele in anderen Studien beschriebenen negativen Effekte der Schichtarbeit nicht festgestellt,” kommentiert Dr. Pallapies.

Weil ältere Arbeitnehmer Schichtarbeit in der Regel schlechter verkraften als Jüngere, verbieten einige Unternehmen Beschäftigten über 50 inzwischen die Arbeit im Schichtsystem ganz. Dr. Pallapies rät von solchen starren Regelungen ab, weil jahrelange Gewohnheiten, der jeweilige Chronotyp oder Vorerkrankungen die Fähigkeit, Schichtarbeit gut zu verkraften, oft stärker beeinflussen können als das Lebensalter. „Dass Wunschschichten häufig als weniger belastend erlebt werden, belegt, dass scheinbar objektive Faktoren wie das Alter nicht immer helfen, die optimale Arbeitszeitregelung zu finden.

Medizinische Beratung für Schichtarbeiter

Wichtig ist auch, dass Beschäftigte im Schichtdienst bei der optimalen Planung ihrer Arbeitspausen beraten werden. So steigern etwa kurze Nickerchen die Leistungsfähigkeit, doch warnen Experten, dass unmittelbar nach dem Kurzschlaf die Müdigkeit noch anhält. Je länger der Kurzschlaf gedauert hat, umso länger braucht der Körper, um die verminderte Leistungsfähigkeit durch Schlaftrunkenheit abzubauen. Gerade bei Steuer- oder Kontrolltätigkeiten sollte man deshalb auf das an sich erholsame Pausennickerchen verzichten.

Eine ergonomisch optimierte Arbeitsumgebung kann die Leistungsfähigkeit verbessern. Der Arbeitsplatz sollte hell und blendungsfrei ausgeleuchtet sein. Zu hohe Raumtemperaturen tragen zur Ermüdung bei. Besonders wichtig ist eine angemessene, leichte, aber ausreichend nährstoffhaltige Ernährung. Gerade Schichtarbeiter sollten viel trinken, am besten Wasser, Fruchsaftschorlen o. ä. Wer Kaffee trinkt, um sich wachzuhalten, sollte berücksichtigen, dass beim Nachlassen der Wirkung verstärkt Müdigkeit auftritt.

Work-Life-Balance verbessern

Schichtarbeiter können selbst viel tun, um sich trotz Schichtarbeit fit zu halten. So ist es gerade bei Nachtschicht effektiver, zu Hause zweimal jeweils eine kürzere Schlafphase einzulegen als zu versuchen, ein einziges Mal möglichst lang zu schlafen. Sinnvoll ist es, zum Ausgleich regelmäßig Sport zu treiben sowie auf Nikotin- und Alkoholgenuss zu verzichten. Übergewicht oder Medikamentenmissbrauch verstärken natürlich die Belastung. Frauen leiden häufig stärker unter der Schichtarbeit als Männer. Das hat einen einfachen Grund. Als Familienmittelpunkt versorgen sie meist zusätzlich die Kinder, und auch im Haushalt übernehmen sie häufig mehr Pflichten als ihre Ehemänner.

Anmerkungen

1 Jürgen Zulley: Schlaf und Schlafstörungen aus chronobiologischer Sicht

Quellen

Interview mit Dr. med. Dirk Pallapies vom Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) an der Ruhr-Universität Bochum (IPA). Link

DGUV Report 1/2012 Schichtarbeit – Rechtslage, gesundheitliche Risiken und Präventionsmöglichkeiten. Link

Schichtarbeit und Gesundheit – eine Bestandsaufnahme. DGUV-Forum 4/2011. Link

Jürgen Zulley: Schlaf und Schlafstörungen aus chronobiologischer Sicht. Link

(Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. 2012)

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