Deutschland ist verhältnismäßig gestresst. Wie der heute, 4. Juni, in Berlin vorgestellte Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt, sind es nicht nur Arbeitspensum, ständige Erreichbarkeit und Überstunden, die für Stress unter Deutschlands Berufstätigen sorgen, sondern vor allem die Verhältnisse, unter denen sie arbeiten. Wie der TK-Bericht zeigt, leiden vor allem diejenigen unter psychischen Belastungen, die befristet, in Teilzeit oder in Leiharbeit beschäftigt sind, sowie diejenigen, die durch Familie und Beruf mehrere Rollen gleichzeitig erfüllen müssen. Insgesamt haben psychisch bedingte Fehlzeiten seit 2006 um gut 75 Prozent zugenommen.
Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK: “Es wird derzeit viel diskutiert, wie sich die hektische Arbeitswelt weniger stressig gestalten lässt. Es gibt sogar Initiativen, die dies staatlich regulieren möchten. Unser Bericht zeigt aber, dass es vor allem die Lebenssituation der Beschäftigten ist, die sie belastet. Sind Arbeitsverhältnisse befristet oder ist die finanzielle Situation aufgrund von Teilzeit oder Leiharbeit angespannt, belastet das die Betroffenen.”
Vierzig Prozent der berufstätigen Frauen und 7,4 Prozent der Männer arbeiten in Teilzeit. Dr. Thomas Grobe vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG), der die Daten für die TK ausgewertet hat: “Teilzeitbeschäftigte Männer sind mit 11,1 Tagen insgesamt weniger krankgeschrieben als Vollzeitangestellte mit 11,8 Tagen. Allerdings sind sie mit durchschnittlich 1,9 Fehltagen pro Kopf deutlich mehr von psychischen Diagnosen betroffen als Vollzeitbeschäftigte (1,4 Tage).” Die Arzneimittelverordnungen bestätigen den Trend. Männer in Teilzeit erhalten zehn Prozent weniger Medikamente verschrieben, das Antidepressiva-Volumen liegt jedoch 53 Prozent über dem der Vollzeitbeschäftigten. Bei Frauen beträgt die Diskrepanz acht Prozent.”
Heiko Schulz, Psychologe bei der TK: “Die Vermutung liegt nahe, dass die erhöhte psychische Belastung bei Männern in Teilzeit, in befristeten oder Leiharbeitsverhältnissen daher rührt, dass Männer traditionell noch als Haupternährer der Familie fungieren, was aber unter den genannten Beschäftigungsformen oft schwierig ist. Viele Beschäftigte arbeiten nicht freiwillig in Teilzeit, sondern weil ihnen nicht mehr angeboten wird oder weil sie eine höhere Arbeitszeit nicht mit ihren familiären Verpflichtungen vereinbaren können.”
Die TK fordert deshalb, zur Prävention seelischer Belastungen auch kreative Beschäftigungslösungen. TK-Chef Baas: “Es geht nicht darum, Arbeitsbedingungen hierzulande noch stärker staatlich zu regulieren. Kein Unternehmen am internationalen Markt kann es sich leisten, E-Mails nach 20 Uhr deutscher Zeit nicht zu beantworten. Aber wir brauchen Rahmenbedingungen für eine flexiblere Arbeitsorganisation, die Bedürfnissen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gerecht werden. Dank moderner Kommunikationsmittel haben wir viele Möglichkeiten dazu. Wenn die Beschäftigten zudem eine wertschätzende Führung, eine existenzsichernde Perspektive und die Möglichkeit bekommen, Beruf, Kinderbetreuung und Pflege zu vereinbaren, stehen sie auch weniger unter Druck.”
Eine Investition in Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) rechnet sich laut TK auch für die Unternehmen: Die Depression steht unter den Fehlzeitenursachen auf Platz eins. Eine Krankschreibung aufgrund dieser Diagnose dauert im Durchschnitt 58 Tage. “In einem Unternehmen mit 350 Beschäftigten fehlen jährlich fünf Mitarbeiter unter dieser Diagnose. Lohnfortzahlung und Produktivitätsausfall kosten das Unternehmen allein für diese Diagnose etwa 75.000 Euro. Ein wirkungsvolles BGM bekommt man dagegen schon für 50.000 Euro”, rechnet Baas vor. “In die Gesundheit von Beschäftigten zu investieren, ist also keine Nettigkeit, sondern wirtschaftlich sinnvoll.”
Hintergrund:
Der TK-Gesundheitsreport analysiert jährlich die Krankschreibungen und Arzneimitteldaten der 3,91 Millionen bei der TK versicherten Erwerbspersonen. Dazu zählen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und Empfänger von Arbeitslosengeld I.
>> Zum Download: Der Report 2013
Aufgrund eines neuen Schlüsselverzeichnisses der Agentur für Arbeit erhalten die Sozialversicherungen seit Ende 2011 detailliertere Angaben zum Beschäftigungsverhältnis der Versicherten. Deshalb lassen sich für 2012 erstmals auch Angaben zur gesundheitlichen Situation von Teilzeitbeschäftigten, befristet Beschäftigten etc. machen.
Daten der Gesundheitsberichte der Krankenkassen sind traditionsgemäß nach einer von der Bundesagentur vorgegebenen Standardpopulation alters- und geschlechtsstandardisiert. Ende 2012 verständigten sich die Ersatzkassen auf eine aktualisierte Population. Die im TK-Gesundheitsbericht erfassten Daten sind alle, auch für die Vorjahre, für diese neue Standardpopulation errechnet. Vergleiche mit früheren Ausgaben der TK-Gesundheitsreporte sind jedoch nicht möglich.
Weiterführende Artikel im HCC-Magazin
Gesundheitsreport der TK: Fehlzeiten nahmen auch 2012 weiter zu, 26. Februar 2013
TK-Gesundheitsreport: Mehr Krankschreibungen im Norden als im Süden, 14. Mai 2013
(TK)