Erfolgs- und Leistungsdruck, beruflich wie privat, fördern riskante Lebensweisen. Gesunde Jugendliche wie Erwachsene versuchen den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden. Sie versuchen die Leistungsfähigkeit des Gehirns, aber auch emotionale und soziale Kompetenz zu steigern. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm, der Zusammenschluss der in der Suchtprävention und Suchthilfe bundesweit tätigen Verbände, rät zu Alternativen und fordert gesundheitspolitisch eine ergebnisorientierte Verhältnisprävention.
Ca. 2 Mio. Beschäftige im Alter von 20-50 Jahren (5 % der Befragten) gaben in einer repräsentativen Umfrage der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) an, als Gesunde schon einmal leistungssteigernde und stimmungsaufhellende Medikamente eingenommen zu haben. Ca. 800.000 Beschäftigte (2 % der Befragten) gaben an, dass sie sich regelmäßig und sehr gezielt „dopen“. Ca. 320.000 Beschäftigte (0,8 % der Befragten) nahmen zum Zeitpunkt der Befragung täglich oder mehrmals wöchentlich Arzneimittel zur Leistungssteigerung und Stimmungsaufhellung ein. Und ein Viertel aller Befragten gab an, eine Steigerung ihrer kognitiven Leistungen im Beruf als vertretbar für die Einnahme ohne medizinische Notwendigkeit zu erachten.
Mehr als 80 % der von Franke und Lieb (2010) befragten Schüler und Studenten würden einer frei verfügbaren Pille ohne Nebenwirkungen positiv gegenüber stehen, während 11 % dies ablehnen. Internationale Daten bestätigen diese Nutzungsbereitschaft: 20 % der befragten Akademiker hatten mindestens schon einmal Arzneimittel (Methylphenidat, Modafinil und Beta-Rezeptorenblocker) ohne medizinische Indikation eingenommen (Online-Befragung des Wissenschaftsmagazins Nature in 60 Ländern). Dr. Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der DHS: „Hirndoping ist die Einnahme chemischer Substanzen und im Vergleich zur Anwendung anderer Neurotechnologien einfach anwendbar und schnell verfügbar. Der Missbrauch verschreibungs2 pflichtiger Medikamente ist der Versuch, noch den absurdesten Leistungsanforderungen gerecht zu werden.“
Zu den bekanntesten Substanzen, die im Zusammenhang mit Hirndoping missbraucht werden, gehören insbesondere stimulierende Wirkstoffe wie das Methylphenidat (Handelsname bspw. Ritalin®) zur medizinisch-indizierten Behandlung des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) und das Modafinil (Handelsname Vigil®) zur Therapie der Schlafkrankheit (Narkolepsie).
Während der missbräuchliche Gebrauch von Antidementiva zu einer Verbesserung der Gedächtnisleistung führen soll, werden bestimmte Antidepressiva (u. a. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, SSRI), die u. a. zur Behandlung depressiver Verstimmungen sowie von Angst- und Zwangsstörungen entwickelt wurden, im Sinne einer versuchten Verbesserung des psychischen Wohlbefindens zum Doping angewendet. Bei Gesunden führt die Einnahme von Antidepressiva nicht zur gewünschten Wirkung, nicht selten zur Verschlechterung der Leistungsfähigkeit. Beispielsweise nehmen Aufmerksamkeit und Wachheit durch die Aufnahme von Fluoxetin, Citalopram und Sertralin ab. Auch finden sich keine Belege zur Steigerung der Gedächtnisleistung Gesunder durch Antidementiva. Eher werden beide Substanzgruppen bei Gesunden eine Vielzahl unerwünschter Wirkungen auslösen, z.B. Kopfschmerzen, Ruhelosigkeit und Übelkeit.
Noch riskanter ist die Einnahme von Methylphenidat durch Gesunde, die bereits über eine gute Aufmerksamkeitsfokussierung verfügen. Neben einer Reduktion der Planungs- und Handlungsbereitschaft, löst die Einnahme häufig Zustände von Euphorie und Überschwänglichkeit aus, die zur Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit führen. Prof. Dr. Gerd Glaeske: „Die Einnahme führt bei Gesunden nachweislich weder zu gewünschter Stimmungsaufhellung noch zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, eher erreichen sie die Verringerung von Leistungsfähigkeit und Aktivität. Neben anderen unerwünschten Nebenwirkungen weisen die stimulierenden Wirkstoffe Methylphenidat und Modafinil ein hohes psychisches Abhängigkeitsrisiko auf.“
Bei vielen im Zusammenhang mit Hirndoping genannten Substanzen steht nicht die Gefahr des physischen Abhängigkeitspotenzials im Vordergrund, sondern die des psychischen Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzials. Dem Abhängigkeitsrisiko muss individuell mit Verhaltensprävention und institutionell mit Verhältnisprävention begegnet werden. Prof. Dr. Renate Soellner: „Mehr Achtsamkeit zur besseren Wahrnehmung und Deutung körpereigener Signale hilft, Überlastungen vorzubeugen. Ein gutes Zeitmanagement mit Ruhepausen kann ebenso helfen wie ein gut organisierter Arbeitsplatz.“
Individuelle Maßnahmen können die stetig wachsenden Anforderungen der Leistungsgesellschaft nur begrenzt kompensieren. Vor diesem Hintergrund fordert die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen auf gesellschaftspolitischer wie institutioneller Ebene die zusätzliche Umsetzung verhältnispräventiver Leistungen. Das bedeutet, Arbeitsplatzregelungen und Sozialleistungen können nicht ausschließlich wirtschaftspolitisch diskutiert und entschieden werden, sondern sind deutlicher als bisher auch gesundheitspolitisch auszurichten. Dr. Raphael Gaßmann: „Wir leben nicht nur, um zu arbeiten! Wenn Schule, Ausbildung und Beruf krank oder süchtig machen, ist es Zeit, sie grundsätzlich zu entschärfen.“
Quelle: DHS