Digitale Wissensarbeiter können überall und jederzeit arbeiten. Werden Büros also zum Auslaufmodell? Machen Mitarbeiter bald nie mehr Feierabend und sind den Online-Vernetzungswerkzeugen auch am Arbeitsplatz ständig hilflos ausgeliefert? Der Journalist, Buchautor und New-Media-Trainer Tim Cole relativiert die Gefahren der Digitalisierung und fordert vielmehr, diese sinnvoll zu gestalten – privat und am Arbeitsplatz. Auf der Messe PERSONAL2015 Nord vertieft er seinen Standpunkt in einem Keynote-Vortrag.
„Büros sind eigentlich von gestern. Sie fungieren noch als Ort der Begegnung und als Marktplatz, aber wir müssen nicht dorthin kommen, um zu arbeiten“, meint der New-Media-Experte Tim Cole. Dennoch herrsche in deutschen Unternehmen noch die Präsenzpflicht. Laut einer aktuellen Studie des IT-Branchenverbandes BITKOM pochten rund 75 Prozent aller Unternehmen auf die Anwesenheit ihrer Mitarbeiter im Büro und lehnten mobile Arbeitsplatzszenarien ab. „Die Antworten der Chefs zeigen, dass sie nicht loslassen können. Sie haben Angst vor ihren Mitarbeitern und misstrauen ihnen“, schlussfolgert der Journalist.
Immer auf Arbeit: Befreiung oder Gefahr für die Gesundheit?
Cole ist überzeugt, dass eine Lockerung der Anwesenheitspflicht eine Befreiung für die Mitarbeiter wäre, die ihre Arbeit dann gemäß ihres Biorhythmus gestalten könnten. Argumente von Kritikern, die ständige Erreichbarkeit von Beschäftigten könne die psychische Gesundheit gefährden, hält er für wenig zielführend. „In einer vernetzten Gesellschaft entwickeln wir immer mehr die Fähigkeit, wie ein Netzwerkknoten zu funktionieren“, so Cole. Verschiedene Tätigkeiten müssten nahezu gleichzeitig oder frequentiell sehr schnell hintereinander geschehen, wenn man Teil eines Netzwerkes sei und ständig auf Kommunikations- und Unterhaltungsimpulse reagiere.
Neues Arbeiten: Multitasking kann man lernen
Diese Form des Multitasking könne zwar den Workload auf den ersten Blick steigern, sei aber im Grunde eine Verschiebung der Aufgaben. „Wir werden in Zukunft mehr Zeit mit Kommunikation verbringen, denn das wird in einer wissensbasierte Arbeitswelt zunehmend unser Job sein“, prognostiziert der Buchautor. Häufige Unterbrechungen seien nicht unbedingt ein Produktivitätshemmnis, sondern eine Chance für neue Ideen: Wenn man mit etwas Abstand erneut auf die zu lösende Aufgabe blicke, führe diese nicht selten zu neuen Erkenntnissen. „Wir lösen Aufgaben immer häufiger in Kollaboration mit anderen und das setzt die Fähigkeit voraus, die Klaviatur der Kommunikationstools zu beherrschen.“ Die Konzentration auf eine Tätigkeit sei da keine wünschenswerte Eigenschaft. „Je besser wir in der Lage sind diese Dinge mehr oder weniger gleichzeitig zu erledigen, desto besser kommen wir in der digitalen Welt zurecht.“
Digitale Aufklärung: Neue Regeln für die Arbeit gestalten
Der Autor des Buches „Digitale Aufklärung“ plädiert gleichwohl dafür, dass jeder seinen persönlichen Arbeitsstil finden muss. „Wir können nicht erwarten, dass uns jemand die Regeln für die digitale Welt vorgibt.“ Tim Cole erinnert diesbezüglich an das Dictum sapere aude eines Immanuel Kant: „Wage Dich deines Verstandes zu bedienen!“ So wie zur Zeit Kants die Rationalisten nicht länger auf den Staat, die Kirche und die Tradition vertrauen wollten, sei heute beim Übergang von der analogen zu einer digitalen Welt wieder ein neues Regelwerk erforderlich – schon bei der Erziehung von Kindern. „Wenn Kids heute Hausaufgaben machen, läuft mindestens der Fernseher oder das Radio nebenher und ständig summt das Smartphone.“ Dies sei ein gutes Training, um sich der neuen Kommunikationswelt anzupassen, in der es sehr wünschenswert sei, seine Aufmerksamkeit aufzuteilen. „Dass wir dann versuchen, sie vom Multitasking abzuhalten, ist ein Verbrechen an unseren Kindern.“
Hierarchien abbauen und Kollaborationstools einführen
Personalverantwortliche könnten die digitale Aufklärung unterstützen, indem sie sich für den Abbau hierarchischer Strukturen einsetzten. „Es gibt nicht mehr den da oben, der alles weiß – so werden Unternehmen auf Dauer keinen Erfolg haben.“ Neben einem Umdenken in den Köpfen, müssten Betriebe ihre Werkzeugkisten daraufhin durchforsten, welche Tools eher hinderlich statt hilfreich seien. Ein Ansatzpunkt, um Hierarchien zu dekonstruieren und Produktivität zu erhöhen, sei etwa die Abschaffung der E-Mail. Die Firma Atos, eine der größten IT-Service-Companies mit rund 40.000 Mitarbeitern, habe vor drei Jahren im Rahmen seines Projekts „Zero-E-Mail“ angekündigt, das erste Unternehmen ohne E-Mail zu werden. Inzwischen habe Atos E-Mails zu 80 Prozent durch andere Tools wie Instant-Messaging, Blogs, Portale oder Kollaborationstools ersetzt und einzelne Null-E-Mail-Prozesse zertifiziert.
Auf der Messe PERSONAL2015 Nord führt Time Cole in einem Keynote-Vortrag seine Thesen weiter aus und skizziert Beispiele, wie Unternehmen in Sachen digitale Aufklärung vorankommen.
Keynote-Vortrag von Tim Cole:
Arbeit 2.0: Feierabend war gestern
PERSONAL2015 Nord, Donnerstag, 7. Mai 2015, 16.20 Uhr,
Hamburg Messe und Congress, Halle A4, Praxisforum 2
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Über Tim Cole
Technik für Menschen verständlich machen ist die Mission von Tim Cole. Als Journalist und Moderator beschäftigt sich der gebürtige US-Amerikaner, der heute in den österreichischen Alpen lebt, schwerpunktmäßig mit der Wechselbeziehung zwischen Wirtschaft und Technik. Er schreibt regelmäßig Beiträge, Kommentare und Kolumnen für Capital, Süddeutsche Zeitung, „e-commerce magazin, Die Welt, Computerzeitung und Akquisa. Der Buchautor und viel gefragte Referent steht bei Seminaren, Firmenveranstaltungen und Kongressen ständig im Dialog mit Führungskräften aus Wirtschaft und Politik. Bevor er als Coach und Management-Trainer tätig wurde und 2005 die Firma „NMT – New Media Training“ gründete, leitete er die Redaktionsgruppe Multimedia der Motor-Presse Stuttgart und war Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins „NET-Investor“. Kürzlich veröffentlichte er gemeinsam mit Ossi Urchs das Buch „Digital Enlightenment Now!“, die englische Version des 2013 erschienen Werks „Digitale Aufklärung“.