Wie werden Lebewesen zu Individuen, die sich durch ihre ganz persönliche Hirnstruktur und ihr Verhalten von anderen unterscheiden? Forschern in Dresden, Berlin, Münster und Saarbücken ist jetzt ein entscheidender Schritt zur Klärung dieser Frage gelungen: Sie konnten bei Mäusen nachweisen, dass Erfahrungen die Neubildung von Hirnzellen beeinflussen und somit zu messbaren Veränderungen im Gehirn führen können. Die Ergebnisse der Studie erschienen am 10. Mai in der Fachzeitschrift Science. Das DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden – Exzellenzcluster an der TU Dresden (CRTD), der Dresdner Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) sowie das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung waren bei der Untersuchung federführend.
Das Gehirn wächst buchstäblich an seinen Aufgaben. Es verändert sich ein Leben lang mit jeder neuen Erfahrung, wodurch sich auch Persönlichkeit und Verhaltensweisen fortentwickeln. Doch worin genau besteht der Zusammenhang zwischen individueller Erfahrung und der Hirnstruktur eines jeden einzelnen? Warum sind eineiige Zwillinge mitunter so unterschiedlich, auch wenn sie gemeinsam aufwachsen? Um diesen Fragen nachzugehen, beobachteten die Forscher 40 genetisch identische Mäuse. Diese teilten sich ein Gehege mit einem reichhaltigen Angebot an Beschäftigungs- und Erkundungsmöglichkeiten.
“Die Tiere hatten nicht nur alle das gleiche Erbgut, sie waren auch alle den gleichen Umweltbedingungen ausgesetzt”, beschreibt Studienleiter Gerd Kempermann, Professor für Genomik der Regeneration am CRTD und Standortsprecher des DZNE in Dresden, den Versuchsaufbau. “Gleichzeitig war das Gehege so abwechslungsreich, dass jede Maus in dieser Umgebung ihre ganz individuellen Erfahrungen machte. Deswegen unterschieden sich die Tiere im Laufe der Zeit immer mehr in ihrer Erfahrungswelt und in ihrem Verhalten.”
Neue Nervenzellen für individuelle Gehirne
Alle Mäuse waren mit besonderen Mikrochips ausgestattet, die Funksignale auslösten. Dadurch war es Forschern möglich, Bewegungsprofile zu erstellen und die Aktivität der Tiere zu quantifizieren. Fazit: Trotz gemeinsamer Umgebung und identischen Erbguts zeigten die Mäuse sehr individuelle Verhaltensmuster. Sie reagierten unterschiedlich auf ihre Umwelt. Im Laufe des rund dreimonatigen Experiments wurden diese Unterschiede immer deutlicher.
“Die Tiere entwickelten in ihrer gemeinsamen Lebensumgebung unterschiedlich starke Aktivität. Diese korrelierte mit der Neubildung von Nervenzellen in der für Lernen und Gedächtnis zuständigen Hirnregion des Hippocampus”, so Kempermann. “Tiere, die das Gehege besonders aktiv erkundeten, hatten auch mehr neue Nervenzellen als Tiere, die sich vergleichsweise passiv verhielten.”
Die “adulte Neurogenese”, wie die Bildung von Nervenzellen im Hippocampus genannt wird, befähigt das Gehirn, flexibel auf neue Informationen zu reagieren. Mit der aktuellen Studie haben die Wissenschaftler nun erstmals nachgewiesen, dass persönliche Erfahrungen und daraus folgende Verhaltensweisen einen Beitrag zur “Individualisierung des Gehirns” leisten. Diese Individualisierung lässt sich weder auf die Umwelt noch auf genetische Unterschiede zurückführen.
“Adulte Neurogenese kommt auch im menschlichen Hippocampus vor”, sagt Kempermann. “Wir vermuten deshalb, dass wir einer neurobiologischen Grundlage von Individualität auf die Spur gekommen sind, die auch für den Menschen gültig ist.”
Impulse für fachübergreifende Diskussionen
“Der empirische Nachweis, dass Verhalten und Erfahrung zu Unterschieden zwischen Individuen beitragen, ist bedeutsam für Debatten, die in Psychologie, Pädagogik, Biologie und Medizin geführt werden”, meint Ulman Lindenberger, Direktor des Forschungsbereichs Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin. Dabei gehe es zum Beispiel um die Frage, auf welche Weise das Verhalten die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter beeinflusst. “Unsere Ergebnisse belegen, dass die Entwicklung selbst zu Unterschieden im Verhalten beiträgt. Das vermutete man bereits, nun gibt es dafür erstmals einen neurobiologischen Nachweis.”
Im Rahmen der Studie wurden auch die Tiere einer Kontrollgruppe untersucht, die in einer vergleichsweise unattraktiven Umgebung lebten: Bei diesen Mäusen war die Neubildung von Gehirnzellen im Durchschnitt deutlich geringer als bei den Tieren der Versuchsgruppe. “Aus Sicht der Bildungsforschung zeigen unsere Experimente, dass eine reichhaltige Umwelt die Neubildung von Gehirnzellen und damit die Entwicklung von Individualität befördert”, kommentiert Ulman Lindenberger die Ergebnisse.
Interdisziplinäres Teamwork
Die Studie ist zudem ein Beispiel für Kooperation über Fachgrenzen hinweg. Denn erst die enge Zusammenarbeit von Fachleuten aus der Neurowissenschaft, Verhaltensbiologie, Informatik und Entwicklungspsychologie ermöglichte die Entwicklung des besonderen Versuchsaufbaus und neuartiger Auswertungsverfahren. Erstautoren der in Science veröffentlichten Studie sind die Biologin Julia Freund vom Dresdner CRTD und der Informatiker Andreas Brandmaier vom MPIB in Berlin. Zusätzlich zum DZNE, dem CRTD und dem MPIB waren an dem Projekt auch das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken sowie die Westfälische Wilhelms-Universität Münster mit den Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie und dem Institut für Geoinformatik beteiligt.