Psychologen erforschen, wie Lektüre das Verhalten ändern kann
Mit guten, subtilen Geschichten Menschen dazu bringen, weniger Süßes zu essen, auf das Rauchen zu verzichten und überhaupt gesundheitsbewusster zu leben – ein Psychologie-Team der Universität Kassel erforscht die Mechanismen, die Leser dazu bringen, Überzeugungen und Verhalten zum Positiven zu verändern.
Prof. Dr. Tobias Richter vom Institut für Psychologie der Universität Kassel und seine Mitarbeiterin Dr. des. Maj-Britt Isberner untersuchen bis Mitte 2016 in mehreren Experimenten das Potenzial von Geschichten, die Überzeugungen und das Verhalten von Probanden nachhaltig zu verändern. Die Kasseler arbeiten in dem Projekt mit dem Medienpsychologen Prof. Dr. Markus Appel von der Universität Koblenz-Landau zusammen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Kooperationsprojekt „Kognitive und emotionale Prozesse der Persuasion durch Narrationen“ mit insgesamt 360.000 Euro. Die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung sollen während der Laufzeit des Projekts fortlaufend veröffentlicht werden.
Die Geschichte beweist: Lesen wirkt!
Hinweise aus der Historie, dass fiktive Geschichten die Einstellung von Menschen ändern können, gibt es zuhauf. Es heißt beispielsweise, die Erzählung „Onkel Toms Hütte“ habe Mitte des 19. Jahrhunderts die Ansicht vieler US-Amerikaner zur Frage der Gleichheit von Weiß und Schwarz geändert, sie habe sogar zum Ausbruch des Bürgerkriegs in den USA beigetragen. Dr. des. Maj-Britt Isberner nennt einen Fall aus der jüngeren Vergangenheit: Nach dem Lesen von Harry-Potter-Romanen hätten viele Kinder nach einer Eule als Haustier verlangt – zuvor wohl eine sehr exotische Idee.
Prof. Richter und sein Team bringen eine große Expertise in das Forschungsprojekt ein. In früheren Studien und Experimenten konnte der Leiter des Fachgebiets Allgemeine Psychologie die subtile Wirkung von Geschichten auf die Einstellungen von Lesern bereits belegen: Nach dem Lesen einer emotionalen, fiktiven Geschichte, in der der Protagonist einen schweren Unfall erleidet, sei die Bereitschaft der Probanden, Organe zu spenden, gestiegen, berichtet der Wissenschaftler. „Auch wenn Geschichten rein fiktiv sind, beeinflussen sie Überzeugungen über die reale Welt“, sagt Richter, „und dieser Einfluss kann auch nach langer Zeit wirken.“
Erste Auswertungen sind vielversprechend
Das funktioniere umso besser, je tiefer sich der Leser in die Geschichte hineinversetze, er unternehme eine „mentale Reise in die Welt der Geschichte“. Dadurch könne auch die Art, wie der Proband die reale Welt wahrnehme, nachhaltig verändert werden, sagt Richter. Geschichten mit einem emotionalen Bezug könnten häufig eher als rationale, wissenschaftlich begründete Argumente Verhaltensänderungen herbeiführen. Die Leidensgeschichte eines Bekannten könne beispielsweise auf den Raucher mehr Eindruck machen als der durch wissenschaftliche Untersuchungen fundierte Hinweis „Rauchen verursacht Krebs“.
Im ersten Experiment des laufenden DFG-Projekts haben die Probanden eine Geschichte gelesen, die ihre Einstellung zum Konsum von sogenannten Smoothies, stark zuckerhaltigen Getränken, ändern soll. Ob diese Manipulation gelungen ist, wird in gehörigem zeitlichen Abstand zu dem Experiment unter anderem mit der Frage kontrolliert, ob die Probanden bereit seien, Geld für die Bekämpfung der negativen Folgen des Softdrink-Konsums zu spenden. Erste Auswertungen deuteten auf ein erfolgreiches Ergebnis hin, berichtete Dr. des. Isberner. Bis zu 100 Versuchspersonen nehmen an jedem Experiment teil.
Zu Inhalt & Methodik
Die Methoden der Kasseler Forscherinnen und Forscher zur Untersuchung der Wirkung von Geschichten auf die Leserinnen und Leser sind vielfältig. Neben Fragebögen und Reaktionszeit-Experimenten werden aufwendige technische Geräte eingesetzt: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfolgen mit einer speziellen Infrarotkamera die Blickrichtung und Blickverweildauer der Probanden beim Lesen der Texte. Der Hautwiderstand und weitere Körperfunktionen werden fortlaufend gemessen, um das Maß der emotionalen Erregung des Lesers zu dokumentieren.
Das Forschungsprojekt könnte nach Ansicht von Prof. Richter nicht nur Erkenntnisse über das Potenzial von Geschichten zur Überzeugungs- und Verhaltensänderungen liefern. „Das Wissen um die Auswirkungen von Geschichten ist auch Teil der Medienkompetenz“, sagt der Wissenschaftler. Denn die persuasive Wirkung von Geschichten hat auch eine negative Seite: Eine Erzählung kann nämlich auch unbemerkt Überzeugungen transportieren, die der Einstellung des Lesers zuwider laufen – wenn sie nur geschickt in der Geschichte verpackt sind. Oder sie kann sogar Falsches als wahr vermitteln. Die Forschungsergebnisse können Medienkonsumenten dabei helfen, derartige Effekte zu enttarnen und ein Bewusstsein dazu zu entwickeln, wie Geschichten ihre Überzeugungen verändern können.
(Universität Kassel / IDW)