Die Presseinfo des AOK-Bundesverbandes vom 16.8.2012 in Verbindung mit dem Fehlzeitenreport 2012 geht von einer Zunahme der Zahl psychischer Erkrankungen aus und bringt dies in Verbindung mit Veränderungen in den Arbeitsbedingungen. Ähnlich werden in öffentlichen Berichterstattungen und Diskussionen Zusammenhänge zwischen einer vermuteten Zunahme von Burnout und Depression einerseits und soziokulturellen Veränderungen andererseits diskutiert. Oft basieren diese Diskussionen jedoch auf falschen, einseitigen oder nicht belegten Annahmen.
Einige der Fehlannahmen tragen zur Stigmatisierung depressiv Erkrankter bei, vergrößern die Behandlungsdefizite und verlängern das Leiden der Betroffenen. Im Folgenden werden die neun häufigsten Fehlannahmen genannt:
1) Immer mehr Menschen erkranken an Depressionen?
Die in den letzten Jahren verstärkte Medienberichterstattung über depressiv Erkrankte sowie die Statistiken der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger mit Zunahme an Arbeitsunfähigkeitstagen und Frühberentungen wegen Depression erwecken den Eindruck, dass Depressionen deutlich häufiger werden. Der aktuelle AOK-Fehlzeitenreport nennt als eine Ursache für diese postulierte Häufigkeitszunahme die erhöhten Anforderungen an Flexibilität und Erreichbarkeit in der modernen Arbeitswelt.
Hinter der Zunahme in den Statistiken dürfte jedoch eher die sehr wünschenswerte Entwicklung stehen, dass
– sich mehr Erkrankte professionelle Hilfe holen,
– Ärzte Depressionen besser erkennen und behandeln, und, vermutlich am wichtigsten,
– Depressionen auch Depressionen genannt und nicht hinter weniger negativ besetzten Ausweichdiagnosen wie chronischer Rückenschmerz, Tinnitus, Fibromyalgie, Kopfschmerz, Chronic Fatigue etc. versteckt werden. Der eher Verwirrung stiftende Begriff Burnout ist allerdings neuerdings als Ausweichdiagnose in Mode gekommen.
Hierzu wurde anderweitig Stellung genommen (siehe U. Hegerl „Fünf Gründe gegen das Modewort Burnout“).
Für diese Interpretation spricht, dass sich die Zahl der Suizide (Selbsttötungen) in Deutschland seit Anfang der 80er Jahre von ca. 18.000 auf etwas mehr als 10.000 drastisch reduziert hat, vermutlich auch weil mehr depressiv Erkrankte aus ihrer Isolation herausfinden, sich Hilfe holen und eine antidepressive und/oder psychotherapeutische Behandlung erhalten. Heute nehmen sich pro Tag ca. 20 Menschen weniger das Leben als vor 30 Jahren, eine sensationelle Entwicklung und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Erfolg der besseren Betreuung psychisch erkrankter Menschen. Auch bestätigen epidemiologische Längsschnittuntersuchungen in der Allgemeinbevölkerung nicht die oft postulierte Häufigkeitszunahme depressiver Erkrankungen. Depressionen sind und waren häufig, wobei dies heute besser sichtbar wird. Patienten, die früher fälschlicherweise z.B. unter der Diagnose „chronischer Rückenschmerz“ in den Statistiken auftauchten, werden heute als Depression geführt.
2) Arbeit ist häufig Ursache für Depressionen?
Viele Menschen erleben, dass Abläufe im Berufsleben immer straffer und schneller werden. Durch neue Medien wie Smartphone, E-Mails etc. verfolgen uns Arbeitsprobleme bis in die Freizeit und den Urlaub. Ein Gefühl der Atemlosigkeit und „Gestresstsein“ ist vielen vertraut. Deshalb ist die Annahme verständlich, dass es hierdurch zu vermehrten Depressionen kommt. Ob und inwieweit dies tatsächlich zutrifft, ist aber unklar. Hier ist zu bedenken, dass es im Vergleich zu früher in vielen Bereichen strenge und oft auch eingehaltene Arbeitszeitschutzgesetze gibt, die Überforderungen einen Riegel vorschieben. Weiter sind Depressionen bei Berufstätigen keineswegs häufiger als bei anderen Personengruppen und von einer generellen Zunahme depressiver Erkrankungen kann, wie oben ausgeführt, nicht ausgegangen werden. Zudem stellt Arbeit für viele Menschen eher einen Schutzfaktor bezüglich depressiver Erkrankungen dar.
3) Ausschlafen und Urlaubmachen hilft gegen Depression?
Jeder depressiv Erkrankte fühlt sich erschöpft, ausgebrannt. Die große Mehrheit leidet unter hartnäckigen Schlafstörungen, oft mit Erwachen in den frühen Morgenstunden, gefolgt von oft über Stunden gehendem Gedankenkreisen und Grübeln. Dies heißt aber nicht, dass immer eine tatsächliche Überforderung vorausgegangen ist, und noch weniger, dass langer Schlaf oder Urlaub machen sinnvolle Maßnahmen gegen die Depression sind. Im Gegenteil: Jedem depressiv Erkrankten ist dringend von einem Urlaubsantritt abzuraten. Die Depression reist mit, und die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über den eigenen depressiven Zustand wird in der fremden Umgebung noch intensiver. Auch führt bei vielen Patienten mit Depressionen und manisch-depressiven Erkrankungen langer Schlaf zu einer Verschlechterung der Depression und das Gegenteil, der Schlafentzug, ist eine bestens belegte und sehr wirksame antidepressive Maßnahme, die den Betroffenen in vielen Kliniken routinemäßig angeboten wird. Es kommt durch Wachbleiben in der Nacht, zur Überraschung der Betroffenen, bei etwa 60 % zu einer schlagartigen Besserung der Depression. Diese Besserung hält allerdings nur bis zum nächsten Schlaf, meist bis zur folgenden Nacht, an. Dass die oft bereits seit Monaten bestehende Depression allein durch eine derartige Maßnahme durchbrochen werden kann, vermittelt jedoch oft Hoffnung, auch wenn die Besserung zunächst nur vorübergehend ist.
4) Depression ist keine richtige Erkrankung?
Jeder Mensch kennt Sorgen, Bedrücktheit, das Gefühl der Überforderung, der Erschöpftheit am Morgen, der Trauer und andere völlig gesunde Reaktionen, auf die oft bitteren Umstände des Lebens. Es ist für Nichterkrankte naheliegend, zu vermuten, dass depressiv Erkrankte das Gleiche erleben und entsprechend mit Willenskraft und Selbstdisziplin auch diese unerfreulichen Seiten des Lebens bewältigen sollten. So naheliegend dieser Gedanke ist, so wenig wird er dem Zustand eines schwer depressiv Erkrankten gerecht. Depressionen sind schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankungen, die jeden treffen können. Der hohe Leidensdruck wird unzweideutig dadurch dokumentiert, dass es keine andere Erkrankung gibt, in der so viele Menschen in ihrer Verzweiflung versuchen, sich das Leben zu nehmen. Dem Fachmann ist es gut möglich, ein nachvollziehbares Stimmungstief mit Bedrücktheit oder Trauer von einer behandlungsbedürftigen Depression abzugrenzen. So sind schwer depressiv Erkrankte starr in ihrer Stimmung gefangen und auch durch positive Nachrichten oder Ereignisse nicht auslenkbar. Oft können keine Gefühle, auch keine Trauer mehr wahrgenommen werden. Betroffene berichten, sich innerlich wie tot, wie versteinert zu erleben (Fachausdruck: „Gefühl der Gefühllosigkeit“), sie können nicht weinen und wenn die Tränen wieder fließen, kann dies ein Zeichen der einsetzenden Besserung sein. Auch die Neigung zu Schuldgefühlen („ich bin nur eine Belastung für meine Mitmenschen“, „hätte ich nur nicht alles falsch gemacht“) ist typisch für eine depressive Erkrankung.
5) Depression ist eine nachvollziehbare Reaktion auf die Lebensumstände?
Depressionen können negative Lebensereignisse wie Überforderungen, Verlusterlebnisse, Partnerschaftskonflikte vorausgehen, müssen aber nicht. Nicht selten gehen scheinbar positive Lebensereignisse voraus, wie eine bestandene Prüfung, eine Beförderung, ein Urlaubsantritt. Oft ist auch beim besten Willen kein äußerer Auslöser zu finden. Auch die bei mehr als der Hälfte der depressiv Erkrankten zu beobachtende schlagartige Besserung der Depression durch Schlafentzug (Wachbleiben während der zweiten Nachthälfte) bei unveränderten psychosozialen Problemen, legt Zurückhaltung bei scheinbar naheliegenden psychologischen Interpretationen des depressiven Zustandes nahe.
6) Körperliche Beschwerden führen zu Depression?
Oft kommen depressiv Erkrankte zunächst mit unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden wie z.B. Kopf- oder Rückenschmerzen, Ohrgeräuschen oder Globusgefühl im Hals zu ihrem Arzt. Derartige Beschwerden und Erkrankungen können bei Menschen mit einer Veranlagung zu Depressionen durchaus auch als Auslöser für eine Depression fungieren. Häufiger ist aber der umgekehrte Zusammenhang. Durch die Depression bekommen körperliche Beschwerden wie Ohrgeräusche, Rückenbeschwerden etc., die sonst als lästiger aber tolerierbarer Teil des Lebens empfunden werden, die Qualität des Unerträglichen. Sie werden zudem als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit der Lebenssituation fehlinterpretiert. Durch die Depression wird jede Empfindung zu einer Missempfindung. Durch eine erfolgreiche Behandlung der Depression verschwinden weder die Ohrgeräusche noch die Rückenschmerzen, sie werden aber wieder erträglich und Teil des insgesamt doch auch genussreichen Lebens.
7) Antidepressiva machen süchtig?
Eine eigene repräsentative Umfrage hat ergeben, dass etwa 80 % der Allgemeinbevölkerung glauben, dass Antidepressiva süchtig machen. Dies ist aber nicht der Fall. Es besteht keine Neigung zur Dosissteigerung und es gibt keinen Drogenschwarzmarkt für Antidepressiva. Antidepressiva machen auch nicht „high“, sondern wirken gezielt gegen die in der Depression gestörten Funktionsabläufe im Gehirn. Suchtgefahr besteht dagegen bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln, z.B. bei Valium-artigen Medikamenten, mit denen Antidepressiva nicht verwechselt werden dürfen.
8) Antidepressiva verändern die Persönlichkeit?
Es ist eine häufige Sorge depressiv Erkrankter, durch die Antidepressiva in ihrer Persönlichkeit verändert zu werden, Autonomie zu verlieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Depression führt zu schweren Veränderungen im Erleben und Verhalten und wenn es unter der Behandlung mit Antidepressiva zum Abklingen der Depression kommt, so berichtet die große Mehrheit der Betroffenen, sich wieder so zu fühlen, wie sie sich im gesunden Zustand kennen.
9) Suizid (Selbsttötung) ist ein Freitod?
Die Möglichkeit, frei über sich, das eigene Leben und letztendlich auch den eigenen Tod bestimmen zu können, erleben viele Menschen als hohes Gut. Der Freitod als möglicher Ausweg nimmt auch der Vorstellung eines möglichen Lebensendes voller Schmerzen und ohne Würde und Autonomie etwas von ihrem Schrecken. Suizid erfolgt jedoch nur äußerst selten als freibestimmte Entscheidung. Etwa 90 % aller Suizide erfolgen vor dem Hintergrund einer psychiatrischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression. Durch eine krankhaft bedingte völlige Hoffnungslosigkeit in Verbindung mit quälenden, übertriebenen Schuldgefühlen und dem hohen, jede Depression begleitenden Leidensdruck sehen nicht wenig depressiv Erkrankte im Suizid den vermeintlich einzigen Ausweg. Das Tragische hierbei ist, dass oft schon nach einer Behandlung von wenigen Tagen sich die Fähigkeit zur Hoffnung und zur Freude wieder einstellt und die Lebensfreude zurückkehrt. Der Suizid ist fast immer tragische Folge einer nicht optimal behandelten Depression oder anderen psychiatrischen Erkrankung.
Quelle: Prof. Dr. Ulrich Hegerl / Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig / Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe