Die Arbeitswelt wird sich grundlegend ändern – nicht nur in Bezug auf die Quantität der vom Menschen zu erledigenden Tätigkeiten, sondern vor allem auf deren Qualität. Ein Großteil der heutigen Arbeitsplätze wird verschwinden, neue Berufsbilder entstehen, vor allem aber wird Arbeit neue Rahmenbedingungen benötigen: Starre Arbeitsplatz- und Arbeitszeitmodelle werden der Vergangenheit angehören, statt linearer Prozesse werden Produktionsnetzwerke mit weitestgehend automatisierten Fertigungen die Produktivität deutlich erhöhen. Damit verschieben sich auch die gesundheitsrelevanten Themen weg von der körperlichen Überbeanspruchung hin zur psychischen Überforderung durch die höheren Ansprüche in Bezug auf Mobilität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Marco Englert hat sich mit der Expertin Prof. Dr. Anabel Ternès über die Zukunft der Arbeitswelt und des Betrieblichen Gesundheits-, Leistungsfähigkeits- und Eingliederungsmanagements ausgetauscht.
Interview zur Arbeitswelt 4.0 von Marco Englert und Prof. Dr. Anabel Ternès
Frau Prof. Dr. Ternès, wie sieht die Zukunft einer Arbeitswelt 4.0 und im Betrieblichen Gesundheitsmanagement aus?
Hochautomatisierte und vernetzte Produktions- und Logistikketten, in denen virtuelle und reale Prozesse so verschmelzen, dass eine hocheffiziente und flexible Produktion Kundenwünsche individuell und in Echtzeit umsetzt – diese Vision einer Industrie 4.0 macht klar, dass drastische Umbrüche notwendig sein werden. Für Arbeit 4.0 bedeutet das, dass ein Großteil der Arbeitnehmer muss nicht mehr zwingend einen Arbeitsplatz im Unternehmen aufsucht, denn viele Tätigkeiten lassen sich von zu Hause im Crowdworking erledigen. Dazu sind Rahmenbedingungen für neue Arbeitsmodelle zu schaffen, die in einer globalisierten Welt auch rechtliche Grenzen überwinden müssen. Ebenso wichtig ist die Abkehr von starren Arbeitszeitmodellen, sofern die konkrete Aufgabe dies möglich macht.
Das Thema Zeit und daraus abgeleitet persönliche Freiheit wird ohnehin einen anderen Stellenwert bekommen: Wenn durch die Automatisierung eine große Zahl der heutigen Arbeitsstellen überflüssig sind, werden neue Stellen mit anderen Anforderungsprofilen entstehen – aber bei Weitem nicht so viele, dass die Automatisierungseffekte kompensiert werden. Es müssen also neue Wege entwickelt werden, die Sinnstiftung und Einkommensgeneration auch bei einem reduzierten Arbeitsaufkommen ermöglichen. Gleichzeitig verändern sich die gesundheitlichen Risiken, wenn die Arbeitswelt 4.0 zunehmend aus Distanzarbeit und anonymen Crowdworking-Arbeitsverhältnissen mit flexiblen Arbeitszeiten besteht: Der fehlende soziale Austausch, die verschwimmenden Grenzen zwischen Privat und Beruf und die enorme Informations- und Datenflut steigern die psychische Belastung und machen die bewusste Entspannung schwerer. Ein nachhaltiges BGM muss diese prognostizierten Entwicklungen vorhersehen und von vornherein die Sensibilisierung für geeignete Präventivmaßnahmen stärken. Fehlender Sinn könnte zum großen Thema der Arbeitswelt 4.0 werden.
Werden die Aspekte Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu einem neuen Ansatz für ein ressourcenorientiertes Performance Management, Leistungsfähigkeits- und Gesundheitsmanagement (LGFM) bzw. Betriebliches Leistungsmanagement (BLM) im Sinne eines Total Health Management (THM) führen, und wie könnte dieser aussehen?
Grundsätzlich neu ist dieser Ansatz nicht, denn ein umfassendes BGM bezieht die persönliche und organisationale Leistungsfähigkeit ohnehin mit ein. Über das BGM hinaus gehören letztendlich das Leistungsfähigkeitsmanagement und die beeinflussenden Faktoren zu den ständigen Aufgaben strategischer Unternehmensführung, denn sie sind gleichzeitig auch ein Erfolgsfaktor: Die systematische Stärkung der Leistungsfähigkeit entlang der spezifischen Anforderungen, Ressourcen und Kompetenzen führt zur höheren Effizienz, aber eben auch zur besseren Veränderungs- und damit Anpassungsfähigkeit des gesamten Unternehmens. Gleichzeitig werden Gesundheit, Wertschätzung und Motivation der Mitarbeiter nachhaltig gefördert. Ausschlaggebend ist demnach die fokussierte Analyse um Defizite, Handlungsfelder und Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren – und daraus die geeigneten Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen. Hier greifen ressourcenorientiertes Management und BGM direkt ineinander.
Welche Rolle spielen Führungskräfte und das Commitment der obersten Leitung beziehungsweise des Top-Managements bei der erfolgreichen Implementierung eines nachhaltigen BGMs?
Die Hauptrollen: Einerseits muss ein nachhaltiges BGM im Top-Management angesiedelt werden, um überhaupt die notwendigen Strukturen mit dem angebrachten Nachdruck schaffen zu können. Das kann nur zum Erfolg führen, wenn das Management selbst in der Unternehmensführung nicht auf kurze Sicht, sondern nachhaltig agiert und das enorme Potenzial des BGM überhaupt wertschätzen und verinnerlichen kann. Ohne ein authentisches Führungs- und Kommunikationsverhalten ist weder die erfolgreiche Implementierung noch die stringente Umsetzung möglich – die positiven Effekte werden sich nicht einstellen. Die Bewusstseinsänderung beim Top-Management ist demnach ausschlaggebend.
Was ist wichtig, wenn über Kennzahlen, Health Balanced Scorecard und Gesundheitscores gesprochen wird?
Einerseits ist die Entwicklung der geeigneten Kennzahlen abhängig von den konkreten Gegebenheiten und Zielsetzungen im Unternehmen. Bei der Formulierung der Fragen und der Durchführung der Untersuchungen zur Erhebung der relevanten Daten ist immer zu beachten, dass die Teilnahme freiwillig bleibt. Im Gegensatz zum Arbeitsschutz muss es jedem Mitarbeiter selbst überlassen bleiben, ob und inwieweit er sich auf die Datenerfassung zur Messung der BGM-Effekte einlässt – auch hier spielt die Kommunikationsqualität der Führungskräfte eine wichtige Rolle. Andererseits muss absoluter Datenschutz gewährleistet werden, um den Erfolg nicht von vornherein zu gefährden.
Stress ist zu der Volkskrankheit überhaupt geworden und Hauptursache vieler Zivilisationskrankheiten. Warum spielt der Baustein Entspannung eine so wichtige Rolle, auch im Rahmen einer guten Arbeitsatmosphäre und -kultur?
Die deutliche Zunahme aus psychischer Belastung resultierender Erkrankungen kommt nicht von ungefähr. Neben der generellen Reizüberflutung spielen vor allem die immer dichter werden Arbeitsabläufe und engen Terminvorgaben im Beruf ein Rolle, die nicht zuletzt dem Optimierungswahn von Kosten-Nutzen-Effekten geschuldet sind. Schnelligkeit, Mobilität und Flexibilität sind nur einige Punkte, die die heutigen Arbeitsanforderungen beschreiben. Sich ständigen Änderungen anpassen, hohem Leistungsdruck standhalten und einer ständig wachsenden Flut von Informationen, beispielsweise E-Mails, standhalten zu können, gehört ebenfalls zu den Ansprüchen, denen Menschen gerecht werden sollen und die sie doch krank machen. Die aktive und bewusste Entspannung, die auch ein Abschalten von Kommunikation impliziert, ist eines der probaten Mittel, dem allgegenwärtigen Stress konstruktiv entgegenzuwirken. Damit entspannt sich die Arbeitsatmosphäre wieder, die Mitarbeiter gehen sorgsamer miteinander um und schaffen so trotz hoher Belastung ein angenehmes Arbeitsumfeld.
Was sind die zentralen Punkte bei einer psychischen Gefährdungsanalyse?
Ein erster Schwerpunkt ist der Arbeitsinhalt an sich: Erledigt der Mitarbeiter Aufgaben komplett oder nur Teilbereiche? Kann er Inhalt, Pensum, Methode oder Reihenfolge beeinflussen? Ist die Arbeit abwechslungsreich oder monoton? Wie gestalten sich das Informationsangebot und die Verantwortlichkeiten? Ist er in Bezug auf Qualifikation über- oder unterfordert, wird er emotional stark beansprucht? Ein weiterer Punkt widmet sich dem Thema Arbeitsorganisation, wie beispielsweise der Länge und Regelmäßigkeit der Arbeitszeiten, dem Arbeitsablauf und der Kommunikation sowie Kooperation am Arbeitsplatz. Daraus folgt der Schwerpunkt soziale Beziehungen, die zum einen zwischen den Kollegen, aber vor allem auch zum Vorgesetzten beurteilt werden müssen. Bringt dieser beispielsweise zu wenig Wertschätzung auf oder fehlen ihm wichtige Kompetenzen, führt das zu Konflikten und damit zu Stress. Die Arbeitsumgebung stellt einen weiteren Bereich dar, der zu psychischer Gefährdung führen kann. Hier spielen neben Lärm, unzureichender Beleuchtung oder der Schwere der körperlichen Arbeit auch die Gestaltung der Arbeitsräume und die Ausstattung mit geeigneten Arbeitsmitteln wichtige Rollen. Darüber hinaus sollten auch neue Arbeitsmodelle in die Analyse der psychischen Gefährdung einbezogen werden, denn permanente Erreichbarkeit, hohe Mobilitätsanforderungen und zeitliche Flexibilisierung entwickeln sich schnell zu Stressfaktoren.
Was sind die Erfolgsfaktoren für ein nachhaltiges Betriebliches Eingliederungsmanagement?
Grundlegende Voraussetzung ist das Bewusstsein, dass BEM zur Wiederherstellung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und damit auch des Arbeitsplatzes ein rechtlich regulierter Prozess ist, also ein MUSS, für den Ressourcen bereitzustellen sind. Schon ein möglicher RoI zwischen 1:4 und 1:10 sollte Grund genug sein, BEM als effektiven Wertschöpfungsprozess einzuordnen. Der Erfolg entscheidet sich an den Zielsetzungen: Auch hier greift das Messen von krankheitsbedingten Ausfallzeiten deutlich zu kurz. Vor allem das Thema psychische Gefährdung der Arbeitsbewältigungsfähigkeit muss auf die Agenda und zur Selbstverständlichkeit werden. Langzeiterkrankungen dürfen ebenso wenig ein Tabuthema sein wie der steigende Anteil von psychischen Erkrankungen. Hier sind insbesondere die Führungskräfte gefordert, die im sicheren Umgang mit diesen sensiblen Bereichen geschult werden müssen. Die Verzahnung mit dem BGM, mit Gesundheitsförderung und Arbeitsschutz fördert enorme Synergien zu Tage, die die Effekte des BEM steigern. Kann eine BEM-Vertriebsvereinbarung geschlossen werden, die schlüssig andere Vereinbarungen ergänzt, sind die Erfolgsgrundlagen geschaffen.
Welchen Beitrag können das Präventionsgesetz und der settingorientierte Ansatz leisten?
Präventionsgesetz und settingorientierter Ansatz bedingen einander: Die Gesundheitsförderung soll direkt im Lebensumfeld der Menschen gestärkt werden, indem Gesundheitsverhalten dort beeinflusst wird, wo es wirklich entsteht. Dazu sind die notwendigen Kompetenzen und Voraussetzungen zu schaffen und eventuelle Unterschiede in der Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Maßnahmen auszugleichen. Das Präventionsgesetz sieht dazu enorme Investitionssummen für die Primärprävention, die betriebliche Gesundheitsförderung und zur Vermeidung von Arbeitsgefahren vor. Die Fokussierung auf das Lebensumfeld der Menschen bedeutet, dass auch das BGM und die betriebliche Gesundheitsförderung einen höheren Stellenwert erhalten.
Vielen Dank Frau Prof. Dr. Anabel Ternès für das interessante Gespräch zu Excellence und Arbeitswelt 4.0.
Über die Autoren
Prof. Dr. Anabel Ternès ist Unternehmerin, Social Entrepreneur, Autorin und Keynotespeaker. Als geschäftsführende Direktorin leitet sie das Institut für Nachhaltiges Management (IISM) und hält eine Professur für Kommunikationsmanagement und E-Business. Ihre Schwerpunktthemen sind Digitalisierung, Nachhaltiges Management und Strategisches Marketing. Sie ist an der SRH Hochschule Berlin u.a. Studiengangsleiterin für den MBA Betriebliches Demografie- und Gesundheitsmanagement, der sich mit den demografischen Veränderungen und Altersstrukturen in Unternehmen und der Förderung und dem Erhalt der Gesundheit in Form des Betrieblichen Gesundheitsmanagements beschäftigt.
Marco Englert (MBA) ist Manager, Berater und Coach. Als Director Strategy & Corporate Development verantwortet er bei der brainLight GmbH die Modellierung und Umsetzung der nachhaltigen Managementstrategien. Er verfügt über exzellentes Research- und Consulting-Know-How, u.a. in den Bereichen Unternehmensführung, Personalmanagement sowie Projekt-, Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmanagement. Als systemischer Business Coach und Managementberater hat er Erfahrung in der Begleitung von Entscheidungsträgern bei den komplexen Fragestellungen des beruflichen Alltags. Er ist u.a. zertifizierter Spezialist für HR Compliance, Spezialist für Personalentwicklung, Manager für agile Organisationsentwicklung und Employer Brand Manager (Quadriga University) sowie Betrieblicher Gesundheitsmanager (IHK).